Unser Weihnachtswunder
- Lotta

- 21. Nov. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Oft frage ich mich, ob es Wunder oder Zufälle sind, die uns passieren. Ich finde die Vorstellung von Wundern schöner und glaube auch fest daran, dass es etwas Übernatürliches gibt, das, auf welche Weise auch immer, seine Finger mit im Spiel hat. Das macht das Leben irgendwie magischer und vor allem hoffnungsvoller.
Erst vor einigen Wochen gab es eine Situation – für meine Familie und mich: ein Wunder. Mein Opa ist schon lange schwer krank. Er hat ein Lymphom im Körper, das stetig gewachsen ist. Er bekam eine Chemotherapie nach der anderen – hat zusehend abgenommen. Er war schwach, die Lebensfreude verschwunden. Wir hofften nach jedem Arztbesuch darauf zu hören, dass es geschrumpft sein würde aber die Chemo schlug nicht an. „Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir erhöhen die Dosis für die Chemotherapie und verlängern das Leben um einige Monate oder wir probieren eine weniger erforschte Zelltherapie aus, die das Lymphom endgültig vernichten kann.“, sagte der Arzt. Man könne bei der Therapie jedoch nichts versprechen. Sie sei mit vielen starken Nebenwirkungen verbunden und er könne dabei sterben. Zumal er auch keine Zwanzig mehr ist und der Körper schon stark geschwächt war, wollte man uns nicht all zu viele Hoffnungen machen. Dennoch war für uns alle schnell klar, dass das Leiden ein Ende haben musste. Nachdem die Therapie auch von der Krankenkasse bestätigt wurde, ging es los. Ich hatte irgendwie keine Angst, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich immer denke, dass eh alles gut ausgehen wird. Ich blende die negativen Seiten gerne aus – zumindest so lange es noch geht.
Die ersten Tage verliefen gut. Irgendwann wurde es schlechter. Mein Opa war kaum noch ansprechbar. Wir durften nicht zu ihm und er fehlte uns so sehr. An einem Tag war ich bei meiner Familie, weil ich über das Wochenende mit meiner Mutter in den Wellnessurlaub, den wir durch Corona etliche Male verschieben mussten, gefahren bin. Als wir am Sonntag zurückkamen, rief meine Oma an und fragte, ob wir zuhause seien. Meine Mutter fragte noch, was los sei aber Oma hatte direkt aufgelegt. Als auch noch mein Onkel auf den Hof geschlürft kam, war bei mir alles vorbei. Ich hatte Angst, furchtbare Angst. Ich saß auf dem Sofa, kniff die Augen zusammen und hörte schon den Satz „Er hat es nicht geschafft.“ in meinen Ohren. Diese Sekunden voller Leere. „Er erkennt mich nicht mehr.“, sagte meine Oma weinend, als sie ins Wohnzimmer trat und ein kurzer Moment der Erleichterung durchzog meinen Körper. Das klingt vielleicht etwas makaber aber ich war einfach so froh, dass er noch lebte. Wir saßen alle zusammen, sprachen meiner Oma (und uns selbst) gut zu und hofften, wir hofften so sehr und so viel. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Hamburg. Immer noch mit einem großen Loch im Bauch. Werde ich in den nächsten Tagen schon wieder da sein, um einen der für mich schlimmsten Momente zu erleben? Mich erreichte kurz darauf die Nachricht, dass mein Opa wiederbelebt werden musste und ins künstliche Koma versetzt wurde. Auch eine bekannte Nebenwirkung dieser Therapie, für uns alle der absolute Horror. Ich hatte solche Angst um meinen Opa. Den Mann, der die Paparolle in meiner Kindheit übernommen hat, der immer stark war, der so viel wusste. Ich habe ihn damals bei unseren Touren im Wohnmobil immer nach den Städten der Kennzeichen gefragt – er kannte jedes einzelne. Er weiß wer 1983 Bürgermeister in Arnis war und wann die Schwester von Britney Spears ihr Kind bekommen hat. Ich sage ja, er weiß alles. Er hatte damals eine beliebte Bäckerei in der Stadt, war immer ein Arbeitstier, aufgeben war wirklich nie sein Ding. Er war immer begeisterter Sportler und hat mich zum Laufen motiviert. Für mich ist mein Opa immer ein Held gewesen.
An dem einen Abend, an dem er im Koma lag, konnte ich nicht schlafen. Ich lag zusammengekauert in meinem Bett, die Daumen zusammengedrückt und habe so gefleht, dass Opa wieder aufwachen muss. Ich schrieb ihm eine WhatsApp-Nachricht und wusste dabei nicht mal, ob er sie jemals lesen wird. Ich habe so stark gehofft, mit jeder Faser meines Körpers.
Die Arbeit am nächsten Tag lenkte mich ab. Am Abend lag ich auf dem Sofa, zappte durch das (schlechte) Fernsehprogramm als plötzlich mein Handy klingelte. Opa. Ich saß kerzengerade auf dem Sofa und nahm mit zitternden Händen an. Das kann er nicht sein – oder? „Hallo?!“, fragte ich irritiert. „Hallo mein Schatz.“ Ich fing an wie ein Schlosshund zu weinen. Das war der schönste Moment – Opas Stimme zu hören. Sie klang zwar noch ganz rau aber ich verstand ihn gut. Ich weiß nicht mehr genau was ich gesagt habe, irgendwas zwischen „Oh Gott Opa, ich bin so froh“ und „ich hatte solche Angst“. „Sie haben nur noch ein Prozent“, hörte ich eine Stimme im Hintergrund. Vermutlich der Pfleger. Somit war unser Gespräch schnell beendet und ich voller Glücksgefühle und dankbar für diese unglaublichen zwei Minuten. Ich rief direkt meine Familie an, die noch nichts ahnte. Wir kreischten vor Freude. Unser Opa war zurück. Er hatte mich scheinbar angerufen, weil ich ihm zuletzt die Nachricht geschrieben habe. Und die allerschönste Nachricht erreichte mich erst in der letzten Woche: Die Therapie hat angeschlagen, das Lymphom ist besiegt.
Letztendlich ist es mir egal, ob es unsere positive Energie, Zufall oder sonstiges (pragmatisch gesehen war es ja auch eine 50/50-Chance) war – für uns war es das schönste Wunder, das passieren konnte. Jedes Mal, wenn ich heute seine Stimme höre, muss ich grinsen, voller Dankbarkeit. Manchmal schließe ich dabei die Augen, um seine Stimme ganz fest in meinem Kopf zu verankern. Keiner weiß, wie lange man das noch erleben darf. Selbes gilt übrigens auch für die liebevolle Stimme meiner herzensguten Oma. Und klar, unsere Großeltern werden eben älter aber wenn wir die Möglichkeit haben so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen, sollten wir es genießen, bevor es irgendwann zu spät ist. Und wir wissen nie, weder bei den Großeltern, noch bei anderen lieben Menschen, wann es zu spät sein wird.
Alle kleinen Probleme scheinen jedenfalls so nichtig, wenn es um die Gesundheit der Familie geht. Ich nenne es unser Weihnachtswunder, denn noch vor einigen Wochen wussten wir nicht, ob Opa dieses Jahr Weihnachten dabei sein wird, womit es niemals das gewesen wäre, was es mal war. Und wir LIEBEN Weihnachten! Dieses Jahr freue ich mich ganz besonders, noch so viel mehr als die Jahre zuvor, einfach aus purer Dankbarkeit mit den kostbarsten Menschen auf diesem Planeten zusammen sein zu dürfen.
Das Leben ist nicht unendlich – wir müssen jede Sekunde mit unseren Liebsten genießen, bevor wir es nicht mehr können.




Kommentare